Anke* ist eine klassisch ausgebildete Sängerin und wurde in den späten Sechzigerjahren in einer deutschen Großstadt geboren. In ihrer musikalischen Ausbildung erlebte sie wiederholt sexuelle Gewalt – ohne dass dies je ernsthafte Konsequenzen für die Täter gehabt hätte. Nachdem in den sozialen Netzwerken u.a. vom Münchner Kompositionsprofessor Moritz Eggert eine Diskussion über solche Vorfälle in der Musikbranche angestoßen wurde, entschloss sie sich, ihre Geschichte aufzuschreiben und in anonymisierter Form auf unserem Blog zu veröffentlichen. Die hier geschilderten Ereignisse liegen teilweise dreißig Jahre zurück. Trotzdem haben sie nichts an Aktualität eingebüßt.

* Alle Namen wurden so geändert, dass keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Personen gezogen werden können. Die richtigen Namen sind den Autoren bekannt. Ähnlichkeiten zu anderen Personen sind zufällig und unbeabsichtigt.

ACHTUNG TRIGGERWARNUNG!

In diesem Text wird sexuelle Gewalt geschildert. Wer selbst von Gewalt betroffen ist oder war, kann dadurch getriggert oder retraumatisiert werden. Das bedeutet, dass durch das Lesen fremder Berichte die eigenen Erlebnisse noch einmal geistig und emotional durchlebt werden. Wer weiß, dass er/sie anfällig für dieses Phänomen ist, der sollte diesen Erfahrungsbericht vielleicht besser nicht lesen oder zumindest sehr vorsichtig sein.

Kindheit in einem katholisch geprägten Elternhaus

« Bisher hatte sich niemand für die Geschichte, die ich hier erzählen möchte, interessiert. Sie belastet mein Leben aber bis heute und ist bisher das schlimmste Ereignis meines Lebens.

Ich wuchs in einem gebildeten, katholisch geprägten Elternhaus auf, in dem die Kinder den Eltern bedingungslos „zu folgen“ hatten. Dies erklärt vielleicht meine spätere Schüchternheit, mich zur Wehr zu setzen. In der Schulzeit hatte ich keine Probleme, mich ungerechten Lehrern zu widersetzen; diese waren allerdings nicht in dem Maße Vorbilder, wie es ein Musikpädagoge für mich sein konnte.

Seit dem sechsten Lebensjahr spielte ich Klavier, ab 14 kam die Kirchenorgel hinzu. Ich sang im Konzertchor, in dem auch meine Eltern und Schwestern als begeisterte Hobbymusiker sangen. Ab der ersten Chorprobe wusste ich meinen Berufswunsch: Ich werde Sängerin! Da war ich 12 Jahre alt. Seitdem verfolgte ich beharrlich mein Ziel, aber nicht verbissen, sondern mit viel Freude. Die Musik half mir in der Pubertät über Schwierigkeiten mit Freunden, Klassenkameraden und Eltern sowie schulischen Kummer hinweg.

Der erste Gesangsunterricht

Nach ersten Gesangsstunden bei verschiedenen Lehrer*innen nahm ich schließlich den Unterricht bei Herrn Schwarz* auf, der in unserem Chor bei Konzerten die Solopartien gesungen hatte. Die erste Begegnung mit ihm hatte ich auf einer Konzertreise, als ich mit einigen jungen Chorsängerinnen durch die Stadt ging und er an der Straße lässig auf einem Geländer saß und uns entgegen grinste. Das Grinsen wirkte auf mich merkwürdig und nicht freundlich-väterlich. Mit meinen 16 Jahren konnte ich dies aber nicht einordnen und verdrängte die Begegnung.

Zunächst war er im Unterricht sehr freundlich, wenngleich seine Gesangstechnik auch sehr eigen war. Aus Unerfahrenheit nahm ich dies hin und freute mich, dass ich endlich regelmäßig ausgebildet wurde. Von Anfang an war Schwarz’ Ehefrau in der letzten Viertelstunde des Unterrichts zum Begleiten anwesend. Das war ein seltener Service, den wir Schüler*innen gerne annahmen. Außerdem waren wir sofort in verschiedene Auftritte, z.B. in Seniorenheimen, eingebunden. Dort sammelten wir Auftrittspraxis und bekamen später sogar die ersten Gagen.

Ein Kuss und rutschende Hände

Das erste Mal übergriffig wurde Herr Schwarz, als ich mit 18 Jahren meinen ersten Freund hatte. Ich erzählte im Unterricht freudestrahlend, dass ich so glücklich verliebt sei. Da kam er zu mir, küsste mich auf den Mund und beglückwünschte mich. Ich fand das ekelhaft, konnte aber nicht darauf eingehen, weil er da bereits seine Frau zum Begleiten gerufen hatte.

Peu à peu wurden solche Situationen häufiger. Dann begann die Arbeit an der sogenannten „Stütze“: Ein sängerischer Ton muss Spannung haben, und dies wurde mithilfe der Hand auf dem Bauch des Lehrers und wechselweise der Schülerin gezeigt. Dabei rutschte die Hand ab und zu „zufällig“ tiefer oder höher, gerne auch mal auf die „Brüstchen“ der Schülerin. Einmal landete meine Hand tatsächlich komplett auf dem Geschlechtsteil des Lehrers. Meinen Protest konnte ich nie vertiefen, da immer schon die Ehefrau kam. Sie tat mir leid, daher schwieg ich, aber musste danach immer schön meine Arien und Lieder trällern…

Ich fand auch keinen Weg, um mit meinen Eltern über die Vorkommnisse zu reden. Mir war die ganze Sache unendlich peinlich und schließlich bezahlten sie ja einen Haufen Geld für den Unterricht. Ich war auch gerade im Alter des Abnabelns von Zuhause. Also verdrängte ich das Thema immer wieder. Ich dachte: Wenn ich nach dem Abitur Gesang studiere, bin ich ja ohnehin weg.

Der Schock der Aufnahmeprüfung

Dann kam das Abitur, das ich mit links absolvierte. Das einzig wichtige waren für mich die Aufnahmeprüfungen für die Musikhochschulen. Herr Schwarz riet mir ab, bereits die Prüfungen für ein Gesangsstudium anzugehen: Ich sei noch nicht so weit und sollte erst noch ein Jahr bei ihm mit seiner besonders guten Technik lernen. Seine Aussage war: „Ich mache aus dir eine grandiose Sängerin!“ Ich freute mich einerseits über das Kompliment, hatte aber andererseits das dringende Bedürfnis, mein Elternhaus zu verlassen und zu studieren.

Die erste Aufnahmeprüfung war für mich ein Schock. Ich fuhr zur Prüfung in eine andere Stadt und traf im Zug auf die Tochter einer ehemaligen Lehrerin. Sie prahlte damit, dass sie das Studium so gut wie sicher in der Tasche habe, da sie seit einem Jahr regelmäßig Unterricht bei der Professorin nehme. Da dachte ich schon darüber nach, wie naiv und blauäugig ich gewesen war. Als ich in der Hochschule die Massen der Sängerinnen sah, die alle die Aufnahmeprüfung machen wollten, verließ mich etwas der Mut. Ich wurde dann dort auch nicht genommen. Zu einer zweiten Hochschule fuhr ich noch, ging dort aber die Prüfung gar nicht erst an, da noch mehr Sängerinnen warteten. Niemand von den Profimusiker*innen aus meinem Bekanntenkreis hatte mich auf eine solche Situation vorbereitet.

So kam es, dass meine dritte Prüfung am Konservatorium stattfand. Herr Schwarz arbeitete dort als Dozent für Sprecherziehung, war jedoch kein hauptamtlicher Gesangsdozent. Er versprach mir, ein gutes Wort für mich einzulegen und erzählte hinterher, er habe um mich „gekämpft wie ein Löwe“. Trotzdem wurde ich nur als externe Studierende aufgenommen, sodass ich den Gesangsunterricht selbst bezahlen musste. Ich war mit den Nerven am Ende und fühlte mich wertlos und unerwünscht.

Weitere Übergriffe im Studium

Als das Studienjahr begann, freute ich mich trotzdem sehr darauf. Mein Hauptfachunterricht erfolgte beim Gesangsdozenten Herrn Duerr*. Mit Fleiß und sehr guten Leistungen arbeitete ich mich zu einer anerkannten Studentin hoch, die immer wieder für Konzertprojekte gefragt wurde. Im zweiten Studienjahr bewarb ich mich für die Aufnahmeprüfung für Klavier als zweites Hauptfach. Mein Dozent für Physiologie im Fach Klavier drohte mir vor der Aufnahmeprüfung damit, dass ich sie nicht schaffen würde, wenn ich nicht ihn als Lehrerwunsch angäbe. Er hatte mir vorher oft „Komplimente“ gemacht wie „Da kommt ja die schöne Melusine“. Ich bestand die Prüfung, doch auch mein neuer Klavierlehrer fing im Unterricht an, mich zu betatschen; seine Hand landete oft auf meinem Knie. Das alles zermürbte mich zusehends, ich wusste aber nicht, mit wem ich über die Probleme reden sollte.

Der Gipfel aber war ein Erlebnis mit Herrn Duerr im zweiten Studienjahr. Nach einem Konzert fuhr er mich mit dem Auto nach Hause zu meinen Eltern. Als wir angekommen waren warf er sich im Auto richtig auf mich. Ich riss die Autotür auf, flüchtete in mein Elternhaus und ging danach nicht mehr zu seinem Unterricht. Das ging so ein Vierteljahr, in dem ich ohne Hauptfachlehrer studieren musste. Erst kurz vor den Sommerferien fasste ich mir ein Herz und sprach den angesehenen Gesangsdozenten Herrn Bosch* auf Unterricht an. Mein Selbstbewusstsein und meine Stimme waren in dieser Zeit winzig und körperlos.

Ich konnte dann ab dem dritten Studienjahr – zunächst weiter extern, also mit Bezahlen des Hauptfachunterrichts! – bei Herrn Bosch weiter studieren. Gleichzeitig bemühte ich mich auch um einen anderen Lehrer im Fach Klavier. Herr Bosch empfahl mich an das Opernhaus der Stadt, an dem ich in den folgenden Jahren einige Gastrollen annehmen konnte. Dadurch, dass meine Konzerttätigkeit wieder an Fahrt aufnahm, stieg auch mein Selbstwertgefühl.

Ein unerfreuliches Wiedersehen

Im letzten Studienjahr ging ich verstärkt zu Vorsingen, da ich neben dem Examen ja auf Jobsuche gehen musste. Bei einem dieser Vorsingen kam es zu folgendem Zwischenfall: Während ich vor der Jury stand und mich für das Vorsingen sammelte, rief jemanden aus den Zuhörerreihen: „Huhu, Anke!“. Ich schaute hoch und sah den verhassten Lehrer Herrn Duerr. Das Vorsingen brachte ich trotzdem konzentriert zu Ende, aber ab da wusste ich, dass ich verhindern musste, dass er als Mitglied der Prüfungskommission in meinem Examen sitzen würde.

Ich hörte mich in der Hochschule um und sammelte am Ende zehn Kommilitoninnen um mich, die auch von Herrn Duerr begrapscht worden waren. Gemeinsam suchten wir das Gespräch mit der Direktion, wo uns die nächste böse Überraschung erwartete: Der Direktor, der sogar einst mein Klavierlehrer gewesen war, versuchte uns zu beschwichtigen. Wir würden uns diese Vorfälle einbilden, meinte er, und es sei alles nicht so schlimm. Irgendwann haute ich buchstäblich auf den Tisch und wurde laut. Da dieses Gespräch nichts genützt hatte, wandte ich mich an die Frauenbeauftragte der Stadt. Das Ergebnis: Herr Duerr war bei meiner Prüfung nicht anwesend und wurde verwarnt.

Damit ich weiter studieren konnte, brauchte ich in meinem Examen eine gute Note. Meinen Eltern hatte ich die ganze Geschichte mit Herrn Duerr irgendwann erzählt; diese rieten mir ab, alles vor meiner Prüfung aufzuwühlen: Das werde für mich negativ ausgehen, sagten sie. Sie sollten recht behalten: Ich bekam lediglich eine 2,5. Diese Note reichte nicht aus, um ein Aufbaujahr zu absolvieren. Meine Eltern waren über meine Examensnote entsetzt, vor allem, da sie den direkten Vergleich mit zwei Kommilitoninnen ziehen konnten, deren Examen sie gehört hatten. Die beiden Sängerinnen hatten eine 1,7 bekommen. Meine Eltern meinten, ich hätte sicher mindestens genau so gut gesungen wie diese, wenn nicht besser.

Weiter Pech mit Lehrern

Von diesen Ereignissen habe ich mich nie erholt. Durch die Anspannung und den Stress bedingt überwarf ich mich auch noch mit Herrn Bosch. Im Jahr nach meinem Examen hatte ich noch einige sehr gute Engagements, geriet dann aber an einen Lehrer, der meine Stimme ruinierte und mich beschimpfte. Von einer Kommilitonin, die die gleiche Erfahrung mit ihm gemacht hatte, hörte ich, dass er über mich erzählte, ich sei psychisch „nicht ganz normal“.

Zwei Jahre nach meinem Abschluss hatte meine Stimme gerade noch den Umfang einer Quinte, die Stimmbänder schlossen nicht mehr, ich war ein psychisches Wrack und begann sowohl eine Stimmtherapie wie auch später einige – immer selbst bezahlte – Psychotherapieversuche. Dennoch wurde meine Stimme nie wieder die, die sie einmal gewesen war: Leicht, mit einer sehr guten Höhe und Koloraturvermögen. Ganz zu schweigen von meinem Selbstbewusstsein als Sängerin.

Es hat sich nie jemand aus meinem Bekannten- und Verwandtenkreis wirklich für meine Geschichte interessiert. Die Reaktionen gehen von – bei den Männern verärgert – „Lass mich damit in Ruhe, ich mach’ so was doch nicht!“ bis zu – von Kolleginnen – „Vielleicht hast du das so angezogen, also mir ist so was noch nie passiert.“ In der aktuellen Diskussion an Musikhochschulen höre ich auch: „Der arme Professor XY, da will ihn jemand aber dringend absägen!“

Heute unterrichte ich sehr erfolgreich – aber schlecht bezahlt – als Honorarkraft an einer Musikschule und bin als Sängerin vorwiegend auf Neue Musik spezialisiert. Glücklicherweise hatte ich in den vergangenen Jahrzehnten Kolleg*innen und Chef*innen, die mich schätzen und mir Chancen geben. Ich bin trotzdem nie wieder „gesund“ geworden. »

Fazit und Kommentar

Ankes Geschichte lässt uns betrübt zurück, denn eigentlich hat sie im Umgang mit sexuellen Übergriffen alles richtig gemacht: Sie hat sich mit Kommilitoninnen zusammengetan, hat das Gespräch mit der Hochschulleitung bzw. der Frauenbeauftragten gesucht und hat für sie gefährliche Situationen konsequent gemieden. Sie ist damals nicht zur Polizei gegangen oder vor Gericht gezogen, sondern hat versucht, die Probleme innerhalb der Hochschule zu klären. Doch selbst dieses Vorgehen wurde im Kosmos Musikausbildung nicht geduldet. Für ihr Gespräch mit der Direktion wurde sie mit einer schlechten Note „bestraft“ und damit faktisch des Hauses verwiesen. Als sie dann – von den Ereignissen traumatisiert – versucht hat, bei einem neuen Lehrer ihre Karriere zu retten, hieß es nur, sie sei psychisch nicht normal.

Es ist der alte Mythos der Musik: Wer es nicht schafft, der war eben zu schwach, hat nicht hart genug gearbeitet oder hat seinen Lehrer*innen nicht genügend Respekt entgegengebracht. In diesem Falle hieß Respekt wohl, dass man es als junge Sängerin einfach hinzunehmen hat, dass man von älteren Männern begrapscht, belästigt und sogar fast vergewaltigt wird. Und noch etwas fällt uns an dieser Geschichte auf: Alle hier benannten Täter legten in ihren Übergriffen eine Abgeklärtheit und Furchtlosigkeit an den Tag, dass man daraus nur schließen kann, dass sie dies nicht zum ersten Mal taten. Man kann sich fragen, wie viele Frauen und Mädchen ihnen noch zum Opfer gefallen sind. Im Falle des Herrn Duerr haben wir sogar eine ganz konkrete Zahl: Zehn (!) Kommilitoninnen berichteten von Übergriffen – und sie waren garantiert nicht die einzigen Betroffenen. Für den Direktor schien dies trotzdem kein Grund zu sein, tätig zu werden. Die Schuld, die er damit auf sich genommen hat, wiegt unserer Meinung nach genau so schwer wie die der eigentlichen Täter. Wenn der Leiter einer Einrichtung, womöglich sogar ein Beamter, so offensiven Täterschutz betreibt, sieht es für die Betroffenen von Machtmissbrauch wirklich düster aus. Wie viele Frauen hätte es denn noch gebraucht, damit man ihnen Glauben schenkt?

Anke schreibt am Ende ihres Berichts noch, dass ihr ehemaliger Lehrer mittlerweile verstorben sei und alle Taten verjährt sind. Akten zu den Vorfällen einzusehen wäre sehr schwierig, da es die Institutionen oder Fakultäten in der damaligen Form heute nicht mehr gibt. Lediglich beim Personalamt der Stadt erhielt sie eine knappe Auskunft: In der Akte der Lehrkraft steht nichts. Für sie ist die Geschichte allerdings noch nicht abgeschlossen: „Das Vergehen wird psychisch nie verjährt sein“, schreibt sie, und: „Die Folge davon ist, dass eine Sängerin verstummt…“ Wir hoffen, dass ihre Stimme nun auf diesem Wege gehört wird.

Laura & Daniel

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